Aus den Anfängen

Die ersten Jahre (1891-1918): Angekommen in der Politik

"'Wenn eine Sache in Verfall gerät, muss man einen Verein dafür gründen'" - das Bonmot stammt aus der Gründerzeit des 19. Jahrhunderts (zit. nach Konrad Kreßel, a.a.O. S. 13). Auf den ersten Blick scheint es auch auf die Umstände vor und während der Gründung des 'Pfarrerverein der protestantischen Landeskirche im Königreich Bayern diesseites des Rheins' im Jahre 1891 zuzutreffen. Wer genauer hinsieht, erkennt aber ein Bündel von Entwicklungen und Motiven in einem Jahrhundert großer Veränderungen. Sie lassen sich nur schwerlich auf das Klischee einer Verfalls- (oder auch Fortschritts)geschichte des Protestantismus reduzieren. Stellvertretend für diese Umstände, die zur Vereinsgründung führten, stehen deshalb am Anfang zwei Persönlichkeiten, deren Absichten, Stil und Interessen zunächst unterschiedlich, ja widersprüchlich scheinen. In ihrer Verbindung haben sie jedoch die Mentalität der Gründungsmitglieder des Pfarrervereins, damit die Richtung des Verbands über Jahrtzehnte nachhaltig bestimmt: Wilhelm Löhe (1808-1872) und Adolf Harleß (1806-1879).

Am Anfang war die Zeitung

Die Mehrheit der Evangelischen im Königreich Bayern lebten nach der Erweiterung und Neuordnung seiner Gebiete im Gefolge der Politik Napoeons in den ländlichen Regionen Frankens. Viele sahen die Gegenwart und Zukunft ihrer evangelischen Kirche dort einem krisenhaften Verfall ausgesetzt. Und dies buchstäblich aus allen Himmelsrichtungen: Vom Süden, aus Altbayern, durch die Dominanz des Katholizismus. Vom Westen her, aus Frankreich, durch neuartige Ideen wie Aufklärung und Demokratie. In den Städten Bayreuth und Nürnberg etablierte sich ein wachsenendes Selbstbewusstsein der bürgerlich-liberalen Mittelschicht. Und ab 1871 bescherte die Reichsgründung einen Schub der Industrialisierung und die Zentralisierung des politischen Lebens aus dem preußischen Norden.

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Pfarrer wurden Zeugen und Betroffene von Absatzkrisen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen und von Verarmung auf dem Land. Wirtschaftsflüchtlinge verließen das Land in Richtung der Industriezentren oder Amerika. Persönlichkeiten wie Wilhelm Löhe (rechts) und viele seiner Mitstreiter sahen in der Verarmung und Depression der Bevölkerung zwangsläufig die Folgen von Aufklärung und politischem Liberalismus. So wertkonservativ Löhe in seinen Predigen auch gegen freie Rede, Parteiwesen und Demokratie wetterte, so geschmeidig lernte er deren Instumente selbst zu nutzen - in öffentlichen Aufrufen zu innerer Mission, Gründung von Zeitschriften, Vereinen, die Einberufung von Pastoralkonferenzen, dem Aufruf zur 'mutua consolatio fratrum' (heute würde man sagen: der kollegialen Beratung) unter Pfarrern und politischer Betätigung. Seine politische Haltung blieb indessen kompomisslos und im Kern zutiefst kulturpessimistisch: "Der Dettelsauer Pfarrer", so der Historiker Manfred Kittel, "hatte sein prinzipielles Bekenntnis zur politischen Neutralität Mitte des 19. Jahrhunderts relativiert und in Erwartung des göttlichen Gerichts über den großen sittlichen 'Abfall' erkannt: 'Es wird ohnehin bald gebieterische Pflicht werden, daß die Kirche in den Kampf geht ...'. Löhes Nachfolger, der Neuendettelsauer Diakonissenrektor Friedrich Meyer, sah in den kulturpolitischen Konflikten ebenfalls einen 'gewaltigen Kampf' der 'Kirche Gottes ... mit der christusfeindlichen Staats- und Weltmacht' " (Kittel, a.a.O. S. 25f.) Nebenbei bemerkt: Die Endzeitstimmung, die Löhe und andere mit solchen Reden weckten, machten es später der Sozialdemokratie leicht, apokalyptische Naherwartung spiegelbildlich umzumünzen in die Naherwartung der Weltrevolution, des Umsturzes der innerweltlichen Macht- und Besitzverhältnisse.

Im Jahre 1876 gründete Ferdinand Weber, ein früherer Vikar von Wilhelm Löhe, das 'Corrrespondenzblatt für die evang. luth. Geistlichen in Bayern'. Es blieb bis 1921 im Eigentum ihres jeweiligen Herausgebers und erscheint bis heute als 'Korrespondenzblatt' des Pfarrervereins. Auch wenn darüber keine gesicherten Angaben mehr vorliegen, so war vermutlich das Anzeigengeschäft die Haupteinnahmequelle edes Blattes. Schon in den Jahrzehnten zuvor waren Anzeigen (etwa über den An- und Verkauf theologischer Bücher und anderer Schriften, Kirchenausstattung, Hausrat von Pfarrhäusern etc.) in vielen Zeitungen der Region zu finden, etwa in der 'Süddeutschen Landpost' (vgl. Kittel, a.a.O.). Neu war, dass Weber nunmehr das Potential dieses Marktplatzes nutze, um damit - salopp gesagt - eine immerwährende Pfarrkonferenz zu finanzieren. Die Kehrseite der Medaille: Nicht alle bayerischen Pfarrer teilten Löhes politische Ansichten und die seiner Anhänger, ihre schroffe Distanz zu Staat

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und Kultur. So wegweisend seine Leistungen als Vorkämpfer sozialer Gerechtigkeit und Organisator von Bildung und Diakonie bis heute sind, seine politischen Absichten spaltete die evangelische Pfarrerschaft in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein Zitat, ursprünglich gegen den Rationalismus gerichtet, Den Bruch zu verhindern, gelang einem Studienfreund von Löhe, dem späteren Konstistorialpräsidenten Adolf Harleß (links). Harleß, Ordinarius für systematische Theologie und Gründer, wurde wichtiger Vertreter der 'Erlanger Schule', jener theologischen Richtung, die im Gefolge der Erweckungsbewegung gegen den Rationalismus die Bedeutung religiöser Erfahrung und des lutherischen Bekenntnisses in den Vordergrund stellte. Harleß galt zudem als Diplomat, als gewissenhafter Realpolitiker auf politischem Parkett, dabei nicht weniger entschlossen und falls nötig zur äußersten Konsequenz bereit. Dies zeigte sich im sogenannten Kniebeugenstreit: Am Fronleichnamstag des Jahres 1838 wurden  evangelische Militärangehörige durch einen königlichen Erlass gezwungen, vor der katholischen Monstranz niederzuknien. Erlanger Universitätstheologen und fränkische Pfarrer organisierten Widerstand und Protest, es kam zu Befehlsverweigerungen und Bestrafungen. Harleß, seit 1839 selbst Mitglied im Landtag, brachte sein Protest gegen dieses Symbol des politischen Katholizismus an den Rand der Strafverfolgung. Harleß erkannte, dass konfessionelle Bindung und politische Sacharbeit in den Strukturen des Staates jenseits der eigenen Echokammer kein Widerspruch sein sollten. Mit dieser Haltung prägte er ganze Generationen von Studenten, späteren Pfarrer und damit Gründungsmitgliedern des Pfarrervereins. 

Jenseits des Jammertals

Am 21. September 1891 trat in Nürnberg die erste 'Generalversammlung des Pfarrervereins der protestantischen Landeskirche im Königkreich Bayern rechts des Rheins' zusammen.

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Wer die Protokolle der ersten Generalversammungen liest, stellt schnell fest, dass der schrille Kulturpessimismus aus dem Umkreis Löhes wohltuender Sachlichkeit gewichen war, ohne das Profil des Pfarrberufes, seine Aufgaben und Herausforderungen aus den Augen zu verlieren. In der Präambel der Gründungsversammlung (Abdruck links)heißt es: 1. Der Pfarrerverein der prot. Landeskirche im Kgr. Bayern ds. d. Rh. mit dem Sitze in Nürnberg hat den Zweck, einen Zusammenschluss aller Standesgenossen einerseits zur Förderung in ihrem Amt und zu gegenseitiger Handreichung, andererseits in Berücksichtigung der hohen Bedeutung des Pfarramtes für Kirche, Staat und Gemeinde zur Vertretung aller Standesinteressen zu bilden. Der Pfarrer-Verein steht auf dem Boden des ev. Luth. Bekentnisses. § 2. Diesen doppelten Zweck sucht der Verein zu erreichen I a durch Pflege des Standesbewusstseins, b durch Besprechung der verschiedenen Aufgaben des geistl. Amtes und allen den geistl. Stand berührenden Fragen, c durch Unterstützung aller zum Besten des bayer. prot. Pfarrerstandes und seiner Angehörigen gegründeten oder noch zu gründenden Kassen und Anstalten, sowie durch außerordentliche Hilfe in Notfällen, II a durch Geltendmachung aller idealen und materiellen Standesinteressen, insonderheit durch Abwehr jeglicher Beeinträchtigung oder Verunglimpfung des geistlichen Standes in der Öffentlichkeit, b durch zielbewusstes Eintreten für die Lösung aller der Kirche in der Gegenwart obliegenden Aufgaben, bzw. Unterstützung der hierfür bereits bestehenden Ordnungen und Vereinen." Die Mitglieder Pfarrervereins, dies zeigte sich schnell, verstanden sich selbstverständlich als Teil eines Konfessionsbundes. Sorgen um dem Respekt und die Achtung evangelischer Christen durch die Institutionen des Staates waren, fast sechzig Jahre nach dem Kniebeugenstreit, noch keinesfalls zerstreut. Dies dokumentiuert eine Protokollnotiz einer Generalversammlung von 1892: "Einer gegebenen Anregung entsprechend wird Pfarrer Bühlmeyer beauftragt, den Landtagsabgeordneteten Dek. Wirth zu ersuchen, beim Ministerium anzufragen, wie es sich verhielte mit dem Zwang ev. Soldaten zur
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Spalierbildung bei der Frohnleichnamsprozession [sic!] und unter Umständen eine beruhigende Erklärung in ihr [...?] zu erwirken.“ Hinzu kam jetzt aber, dass die Gründungsversammlung des Pfarrervereins in der schnell wachsenden Großstadt, im 'Evangelischen Vereinshaus' (Bild links) in der Industriestadt Nürnberg tagte, nicht im westlichen Mittelfranken, wo Pfarrer traditionell hohes Ansehen genossen. Die Wahl des Ortes war nicht nur eine verkehrstechnische Entscheidung, sie war symbolisch.

In den ersten Jahren nahmen Themen der ersten Jahre wie Fragen der Besoldung, der Anstellung von Vikaren und Pfarrern, die Gleichbehandlung von „ständigen“ (mit einer einer ordentlich dotierten Pfarrstelle betrauten) und “nichtständigen“ Geistlichen (Vikare, Hausgeistliche, Missionsprediger etc.) bei den Versammlung von Anfang an breiten Raum ein. Das Bedürfnis nach verlässlichen Einkommen und nach krisensicherer Versorgung der Pfarrfamilien als Voraussetzung der Unabhängigkeit des geistlichen Amtes bestimmte die Tagesordnung. Es ging darum, verlässliche Bedigungen zu schaffen, dass Pfarrer ihren Auftrag erfüllen konnten ohne dauerhafte Sorge um ihr Einkommen und das Wohl ihrer Familien. Pfründestiftungen als Einnahmequellen untermauerte in den Augen der Gemeinden zwar noch immer das Ansehen der Pfarrerschaft als Grundherren auf dem Land direkt neben dem Adel. Allerdings erwiesen sich die Erträge dieser Pfründe in Zeiten von Industrialisierung, Landflucht, Nationalisierung und beginnende Globalsierung der Rohstoffmärkte (z.B. Holz und Getreide) zunehmend als schwankend und krisenanfällig. Bereits 1892 (sic!) wurde deshalb in Bayern zur Ergänzung und Stabilisierung der Pfarrbesoldung eine eigene Kirchensteuer eingeführt. Trotz dieser Bemühungen um Fragen der Versorgung und des Einkommens war die Tätigkeit des Pfarrerverein nicht mit der einer Gewerkschaft zu vergleichen. Die Mitglieder des Vereins verzichteten von Anfang an auf jedes Mittel eines Arbeitskampfes, sonst das Rückrat jeder Arbeitnehmervertretung. Statt dessen war die Errichtung von Versicherungen, Unterstützungskassen und anderen sozialen Leistungen in den ersten Jahren vorrangiges Vereinsziel - Versorgungsleistungen, die heute selbstverständlicher Teil des allgemeinen Versicherungs, Kranken- und Pflegekassenwesens sind. 

 Aufbruch in die Zivilgesellschaft

Viele Gründungsmitglieder begannen ihr Engagement im Pfarrerverein aus praktischer Not und Sorge. Dabei formierte sich in Bayern (wie in anderen evangelischen Kirchen Deutschlands) zugleich ein Verband, der den lebenspraktischen Einsatz, das Organisationstalent seiner Mitglieder in praktischen Fragen der Ausgestaltung des Dienstrechtes zu verbinden wusste mit klugen Argumenten und beharrlicher, eben diplomatischer Vorgesehensweise. Im Pfarrerverein verschmolzen Tugenden eines Wilhelm Löhe mit denen eines Adolf Harleß. Schließlich begann sich schon vor 1918 der Status - oder wie man heute sagt: das Pfarrerbild - in der Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Ursprünglich als 'schwarze Polizei', als moralischer Sittenwächter im Dienst der Obrigkeit über die Bevölkerungen gesetzt, artikulierten sich die Mitglieder des Pfarrervereins nunmehr als gleichberechtigte Akteure einer im Werden begriffenen Zivilgesellschaft. Auch wenn Pfarrer noch bis 1918 Teil des staatlichen Beamtenwesens blieben: Im Pfarrerverein probten Geistliche erfolgreich das Prinzip der Selbstorganisation und die hohe Schule der Demokratie lange vor 1918 und leisteten damit entscheidende Vorarbeit für die Selbstorganisation der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Zeiten der Republik. Wichtige Vorschläge, die später in der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern Eingang fanden, wurden im Korrespondenzblatt veröffentlicht und diskutiert (Bischofsamt, Kirchenkreisverfassung, Stellung der Dekanate). Vom Moment seiner Gründung an bis an die Schwelle des demokratischen Staates 1918 war der Pfarrerverein Organ und Fürsprecher einer evangelischen Kirche, die nicht in alten Strukturen verharrt, sondern als Volkskirche nah bei den Menschen steht und somit offen bleibt für Veränderung und Erneuerung.  

Autor: Uwe Stenglein-Hektor

Quellen:
  • Manfred Kittel: Wahlkämpfer im Lutherrock. Politischer Protestantismus in Franken während der Bismarck-Zeit, zit. nach http://www.kas.de/upload/ACDP/HPM/HPM_06_99/HPM_06_99_1.pdf
  • Protokolle der 'Generalversammlungen des Pfarrervereins der prot[stantischen] Landeskirche im K[önigreich] Bayern d[iesseits] des Rh[eins]', v. a. die Jahrgänge 1891 ff.
  • Korrespondenzblatt für die evang. luth. Geistlichen in Bayern, v.a. die Jahrgänge 1876, 1891 und 1918.
  • Konrad Kreßel: 100 Jahre Pfarrer - und Pfarrerinnenverein, in: 100 Jahre Pfarrer - und Pfarrerinnenverein in Bayern. Stationen und Aufgaben. Herausgegegen von Konrad Kreßel und Klaus Weber, Ansbach 1991, S. 13ff.
  • Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Band I: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1991, 2. Auflage
  • Lucian Hölscher: Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1989
 
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